2018

Rückblick 2018

Sich wohlfühlen und etwas leisten

Eindrücke vom Landeskonzert Schulen in Hessen musizieren

Von Albrecht Schmidt

Wiesbaden, im April 2018. Seit vierzig Jahren gibt es „Schulen in Hessen musizieren“, veranstaltet vom Bundesverband Musikunterricht e.V., Landesverband Hessen. Auch das diesjährige Landeskonzert im Wiesbadener Kurhaus bot wiederum die Gelegenheit, der Öffentlichkeit die Vielgestaltigkeit schulpraktischen Musizierens zu demonstrieren und damit die Notwendigkeit einer intensiven musikalischen Bildung in allen Schulformen zu unterstreichen.

 

Minister auf ungewohntem Terrain

Einen singenden Minister erlebt man nicht alle Tage: Nachdem Professor Dr. Alexander Lorz, Staatsminister im Hessischen Kultusministerium, in seinen Grußworten Komplimente verteilt („Toll, dass wir eine solche musikalische Landschaft an den hessischen Schulen haben“) und die Vielfalt des musikalischen Spektrums sowie die „universelle Sprache über Grenzen hinweg“ hervorgehoben hatte, verblüffte er anlässlich des 40jährigen Jubiläums „Schulen in Hessen musizieren“ als mutiger Gesangssolist und kompetenter Interpret von John Lennons „Imagine“. Die Gesangsgruppe „Frauenzimmer“ der Wiesbadener Diltheyschule, an der Lorz sein Abitur ablegte, fungierte als versierter Backgroundchor, und Staatssekretär Dr. Manuel Lösel, der als studierter Schulmusiker sein Handwerk nicht verlernt hat, steuerte vom Flügel aus mit lockerer Selbstverständlichkeit das musikalische Geschehen. Die hautnahe Freundschafts- und Friedensbotschaft „And the world will live as one“ überstieg in ihrer Wirkung – begleitet von Gänsehautfeeling und glänzenden, wenn nicht gar feuchten Augen im Parkett sowie begeistertem Mitklatschen - jede politische Rede um ein Vielfaches. Gleichzeitig war es eine wunderbare Überleitung zum abschließenden Kanon „Da pacem Domine“ von Melchior Franck, der im Zusammenwirken aller Mitwirkenden, auf Bühne und Balkon verteilt, den ehrwürdigen Friedrich-von-Thiersch-Saal in ein tönendes Universum zu verwandeln schien.

Durchgängiger Musikunterricht und ausgebildete Lehrer

Zwei Notenständer benötigt das Präsidenten-Tandem des Bundesverbandes Musikunterricht, Landesverand Hessen, Dorothee Graefe-Hessler und Volkhard Stahl, für die Begrüßung. Neben politischer Prominenz, darunter Landtagsabgeordnete, ist die Präsidentin des Landesmusikrates Hessen, Frau Dr. Ursula Jungherr, anwesend. Ebenfalls gekommen sind Lothar Behounek, der Direktor der Landesmusikakademie Hessen, und die Vorsitzenden des Landeselternbeirats und des Verbandes Deutscher Musikschulen in Hessen. Graefe-Hessler und Stahl zitieren Hörermeinungen aus einem Beitrag des Norddeutschen Rundfunks: „Dem Musikunterricht müssen ausreichende Kapazitäten geboten werden – personell, räumlich, finanziell und auch im Gesamtkonzept der Schulen. Der Ansatz muss aber sicher auch grundlegender sein: Es werden zu wenige Musiklehrer ausgebildet.“ Ganz konkret werden die Verbandspräsidenten, wenn es um die Situation in Hessen geht, und fordern, von starkem Beifall unterstützt:

  • Einen durchgängigen Musikunterricht von der Grundschule bis zum Abitur mit einer kontinuierlichen Verbindung von Praxis und Theorie mit dafür ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern.

  • Die Möglichkeit zur Leistungskurs-Wahlkombination Musik + Deutsch in der Oberstufe für die hessischen Schülerinnen und Schüler, damit sich wieder mehr Abiturienten für ein Musikstudium entscheiden.

  • Größere Ressourcen und Kapazitäten für die Lehrerbildung im Fach Musik, um tatsächlich bedarfsdeckend ausbilden zu können.

  • Zeitfenster im schulischen Alltag für musikalische Programme, damit diese in der Ganztagsschule auch mit Musikschulen und anderen außerschulischen Partnern umgesetzt werden können.

Knackiges Schlagzeug und stille Töne

In den Regionalbegegnungen, die dem Landeskonzert vorausgingen, haben sich im Februar 2018 annähernd 3500 Schülerinnen und Schüler in über 90 Ensembles aller Schulformen und Altersgruppen zum Musizieren getroffen. Begegnungsort waren Bad Arolsen, Biedenkopf, Frankenberg, Großen-Buseck, Kassel, Münster bei Dieburg, Pohlheim-Garbenteich, Schlüchtern und Wiesbaden. Sieben Ensembles wurden für das Landeskonzert ausgewählt, mit ausführlichen Informationen vorgestellt von Johannes Kaballo, dem Landesbeauftragten und Moderator von „Schulen in Hessen musizieren“, dem wiederum die organisatorische Hauptlast des Abends zukam.

Mit dem Motto „Sich wohlfühlen und etwas leisten“, das für alle Beteiligten uneingeschränkte Gültigkeit besitzt, startet die Young Band der Stadtschule Schlüchtern, ein klangprächtiges Ensemble von mehr als fünfzig Schülerinnen und Schülern, das sich aus Bläserklassen rekrutiert und bei Konzertreisen Erfolge einstreicht. Mit mächtigem Sound, festlichen Fanfaren und knackigen Schlagzeugimpulsen kommt der Eröffnungstitel „Megaforce“ daher. Fünf Tuben tapsen als gewichtige Trolle durch Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ und werden mit Vehemenz in den Beschleuniger geworfen. Die Orchesterleiter Jasmin Engl und Steffen Reus sorgen für Volldampf und lassen bei „Just Dance“ munter die Synkopen purzeln.

Tilman Jerrentrup vom Wiesbadener Dilthey-Gymnasium besorgt mit seinen Schülern flotte Umbauten. Rasch ist die Bühne bereit für das Jugendorchester der Edertalschule Frankenberg (Leitung:Martin J. Fischer). Hier werden ab Klasse 5 Orchesterklassen angeboten, die für ein sinfonisch opulent besetztes Jugendorchester sorgen. Ein fröhlicher Walzertakt und stille Besinnlichkeit bestimmen „Zwei walisische Melodien“. Danach kommen Arrangements des Dirigenten Martin J. Fischer zu Gehör, speziell auf die Instrumentalisten zugeschnitten: In einem Marsch von Händel wechselt der kompakte Tuttiklang geschickt mit Einschüben, die verschiedenen Orchestergruppen die Gelegenheit zum Hervortun bieten. StillereTöne, hübsche Pizzikato-Passagen und ein sympathisch unspektakulärer Ausklang sind die Kennzeichen des abschließenden „Somewhere in my Memory“ von John Williams.

Erhellende Kontraste und kreiselnde Hüften

Zwei Ensembles aus Wiesbaden sorgen danach für dramaturgisch erhellende Kontraste und lautstarke Begeisterung: „Butterflies“ nennt sich die Klasse 4b der Adalbert-Stifter-Grundschulein Wiesbaden. „Herr Heun, es ist so langweilig“, mokieren sich die knapp zwanzig Youngsters und beginnen flugs ihre faszinierende Bewegungstherapie – Klatschen, Trampeln und Schnipsen in verblüffender Koordination, völlig ohne Dirigat. Dieses ist dann bei Gabriel Heun mit organischen Armschwüngen und einem anspruchsvollen, blitzsauber gesungenen Kanon in besten Händen. „Ich wär so gerne Millionär“, träumen die Kids am Ende und zeigen dabei, wie differenziert und gepflegt man mit der Stimme umgehen kann.

Mit kleinen Barhockern ziehen danach dreizehn junge Damen ein, nehmen Platz, klopfen sich auf die Schulter und singen mehrstimmig a capella die vertracktesten, harmonisch raffiniertesten Pop-Titel. Es handelt sich um die Gesangsgruppe „Frauenzimmer“ (Leitung: Tilman Jerrentrup), eine der erfolgreichen Ableger der leistungsstarken Musical-Arbeitsgemeinschaften an der Wiesbadener Diltheyschule. Lässig lassen die Girls die Hüften kreiseln, zwitschern in den Höchsten Tönen, tauchen genüsslich ab in tiefere Gefilde und wandern mühelos durch die Tonarten. In Freddy Mercurys „Bohemian Rhapsody“, von Jerrentrup souverän am Flügel begleitet, konzentrieren sie sich ganz auf chorischen Glanz und lassen Scaramouche und Galileo virtuos vorüberflitzen. Wenn es in die Zielgerade geht, schütteln sie die Mähne, um sich dann brav auf den drei Stufen ihrer kleinen Revuetreppe zu drapieren und sich – völlig zu Recht – frenetisch feiern zu lassen.

Gartensäcke und TV-Kult

Nach der Konzertpause ein weiterer Höhepunkt: der Auftritt des Percussions-Ensembles der Martin-Luther-Schule Rimbach/Odenwald unter der Leitung von Martin J. Junker. Die neun Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 15 und 18 Jahren widmen sich neben der gängigen Schlagzeugliteratur vor allem der Objekt-Percussion: Hierzu werden Alltagsgegenstände zu Schlaginstrumenten umfunktioniert. Kein Wunder, dass bei solch nicht nur akustischem, sondern vornehmlich optischem Spektakel das Fernsehen bereits auf die wendige Truppe aufmerksam geworden ist. Martin J. Junker entwickelt mit schier unerschöpflichem Kreativ-Potential äußerst effektvolle Auftritte für seine fleißigen Rhythmiker. Das „Percussion-Oktett für Gartensäcke“ arbeitet mit jenen tonnenartigen Baumarkt-Artikeln, die sich wie eine Ziehharmonika falten lassen. Kräftig und lauthals werden die handlichen Behältnisse durchgeschüttelt, bis sie am Ende auf den Kopf gestellt und mit Trommelstöcken attackiert werden. Nicht minder wirkungsvoll ist „Roll up! Rhythmical für Rollläden“: Fabelhaft korrdiniert werden in vielfältigen rhythmischen Patterns die Lamellen handelsüblicher Rollläden traktiert und in einem geradezu atemberaubenden Schnattern und Knattern einer permanenten Belastungsprobe unterzogen. Elektrisierend!

Wie unterschiedlich eine intensive Orchesterarbeit darstellen kann, bewiesen schließlich zwei Ensembles aus Wolfhagen und Frankfurt. Wie ein Kanonenschlag knallt der erste Akkord des „Helenenmarsches“ in den Konzertsaal, wenn das Orchester der Wilhelm-Filchner-Schule Wolfhagen unter der Leitung von Florian Pohlmann loslegt, ein sinfonisches Blasorchester, das frisch von der Leber weg, mit unbekümmerter Musizierfreude und jubelndem Glanz agiert. Mit „TV-Kultabend“ stellen die etwa sechzig Instrumentalisten dann ein flott-fetziges Medley vor, verpackt in glitzernde Goldfolie, und zeigen dabei, was die Flimmerkiste so alles an Apercus zu bieten hat – von Eurovisionsfanfare, Schnulzengeraune und Serienplätschern bis Thrillergetöse, Sportstudio-Initial und Tagesschau-Spot.

Samtweiche Violinen, Klasse Klassik

Ganz andere klangliche Valeurs strebt das Kammerorchester der Musterschule Frankfurt (Leitung: Ulrich Bruggaier) an, das sich mit zarten, samtweichen Violinen an das filigrane Vorspiel zu Verdis „La Traviata“ wagt und hier – wie auch im Kopfsatz von Haydns Sinfonie Nr. 82 C-Dur („Der Bär“) – professionelle Klangqualitäten präsentiert: schlank und duftig in den hervorragenden Bläser-passagen, straff und virtuos in den raschen, wuselnden Abläufen der Streicher.

Belohnt wird das Kammerorchester der Frankfurter Musterschule, wie auch die Young Band der Stadtschule Schlüchtern und das Jugendorchester der Edertalschule Frankenberg, mit dem Sonderpreis „Klasse Klassik“, der bereits zum elften Mal überreicht wird, unterstützt mit Notengutscheinen des Bärenreiter-Verlags Kassel. Alle Beteiligten erhielten abschließend ihre Teilnehmerurkunden und fanden sich – einer langen Tradition folgend – bei Melchior Francks Kanon „Da pacem Domine“ zu beeindruckender Klangfülle zusammen. Da mutierten sogar die trommelnden Heimwerker aus dem Odenwald zu tüchtigen Sängern auf der Empore. Schade, dass nach diesem allzu kurz geratenen Schwelgen kein Dakapo gewährt wurde, obwohl dies der anhaltend starke Schlussapplaus offensichtlich signalisierte.